Bildung unbelebter Strukturen bei Ciliaten, Rädertieren und Bauchhärlingen

Begonnen von Michael Müller, Oktober 15, 2021, 12:53:13 NACHMITTAGS

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Michael Müller

Hallo in die Runde!

Eine der erstaunlichsten Aspekte bei der Entwicklung von Organismen, ist in meinen Augen die Bildung von unbelebten Strukturen. Es gibt fast kein Lebewesen, das ohne artspezifische unbelebte Strukturen auskommt - seien es Knochen, Krallen und Haare bei Wirbeltieren, das Außenskelett der Insekten oder die Zellwände von Pflanzen. Wie können diese hochspezialisierten und artspezifischen Strukturen innerhalb und außerhalb von Zellen entstehen, wo doch nur die Zellen der Träger der genetischen Informationen sind? Ich möchte in diesem Beitrag die Bildung von unbelebten Strukturen anhand von Zeitraffer-Aufnahmen der Embryonalentwicklung einiger typischer Wasserbewohnern genauer vorstellen. Alle Aufnahmen entstanden in Mikroaquarien. Für den Celops- und den Gastrotrichenfilm wurde das 100er Objektiv verwendet, für den Rädertierfilm ein 50er Wasserimmersionsobjektiv. Um die Entwicklungen deutlich zu machen, mussten die Filme zum Teil stark beschleunigt werden (Coleps 10x, Lecane 800x, Ch. cordiformis 400x).

1. Bildung der Panzers bei Coleps hirtus nach einer Teilung

Das häufige Wimperntier Coleps hirtus mit seinem auffälligem Panzer ist wohl den meisten von Euch bekannt.


Bild 1: Coleps hirtus; Panzer

Der Panzer besteht aus einer Reihe von Einzelplatten, die innerhalb der Zelle, in Vakuolen des Zellcortex liegen.
Wenn sich der Ciliat teilt, wird der Panzer des Muttertieres gerecht zwischen den beiden Tochtertieren aufgeteilt. Die jeweils fehlende Hälfte des Panzers muss dann von den beiden Tochterzellen nachgebildet werden.


Bild 2: Coleps hirtus; Tochtertiere gegen Ende der Teilung; die Pfeile zeigen auf Vesikel, die Material zur Panzerbildung transportieren

Bereits während der Teilung - vor Trennung der Tochterzellen - beginnt die Bildung der neuen Panzerplatten. An den Grenzen der neuen Platten wird von Vesikeln Material abgelagert und die Konturen der neuen Panzerplatten sind bereits zu erahnen. Elektronenmikroskopische Untersuchung 1 zeigen, dass diese Vesikel vor allem Calcium beinhalten, das als amorphes Calciumcarbonat in die Platten eingebaut wird.


Bild 3: Coleps hirtus; fortschreitende Panzerbildung

In den folgenden Stunden wird immer mehr Material abgelagert und die Panzerstruktur immer deutlicher sichtbar.
Das Material für die Panzerplatten wird an einer genetisch vorgebildeten Matrix innerhalb der Zellen abgeschieden. Diese Matrix (deren Bildung im Detail noch nicht verstanden ist) markiert also die Orte, an denen die Vesikel ihr Material deponieren und so die fein strukturieren, komplex geformten Panzerplatten langsam aufbauen. 

Den gesamten Prozess zeigt folgender Zeitrafferfilm zusammengefasst innerhalb von 2:30 min, der mit einem "Click" auf das folgende Bild gestartet werden kann


Bild 4: Coleps hirtus Zeirafferfilm zur Panzerbildung
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Innerhalb von Zellen funktioniert also die Bildung unbelebter Strukturen meiner Meinung nach folgendermaßen:
- Die Zellen bilden genetisch gesteuert eine Art Matrix, die die Position und Form der unbelebten Strukturen festlegt
- Die Zellen produzieren das Material der Strukturen, das in Vesikel verpackt wird.
- Die Vesikel werden zur Matrix transportiert und lagern dort das Baumaterial der Strukturen ab.

Viele unbelebte Strukturen befinden sich aber nicht innerhalb von Zellen. Ein Beispiel dafür sind die Trophi (die Hartteile des Kauers) von Rädertieren, die außerhalb der Mastaxzellen in einem Hohlraum gebildet werden.


2. Bildung der Hartteile des Kauers (Trophi) bei Lecane sp.

Kauer von Rädertieren setzt sich aus einer Reihe von artspezifischen Hartteilen (Trophi) zusammen, die während der Embryonalentwicklung innerhalb des Eis aus Chitin gebildet werden. Diese Strukturen befinden sich im Lumen des Mastax der Tiere, also außerhalb der Zellen. Wie steuern also die Zellen - als Träger der genetischen Informationen - die artspezifische Form der Trophi?
Beobachtet man den Verlauf der Embryonalentwicklung (hier am Beispiel einer Lecane-Art), kann man den Ablauf der Strukturbildung beobachten.


Bild 5: Lecana sp.; Bildung der Trophi

Die Bildung der Trophi erfolgt an der Wand des Mastax. Sie werden - wie die Panzerplatten bei Coleps - über Ihre gesamte Ausdehnung gleichmäßig abgeschieden. Das Material für die Bildung wird in einem Ring aktiver Zellen in der Mastax-Wand produziert und an die Zellwand transportiert. Hier wird das Material an der Zellwand entlang einer zellübergreifenden, genetisch bestimmten Matrix auf der Zellwand außerhalb der Zellen abgeschieden.


Bild 6: Lecane sp. Zeitliche Abfolge der Trophibildung

Die einzelnen Trophipaare werden nacheinander gebildet (Reihenfolge: Rami, Unci, Manubria - Fulcrum lag leider außerhalb der Fokusebene). Die von den Zellen vorgegebene Strukturinformation wird also während der Embryonalentwicklung angepasst, so dass eine zeitlich abgestimmte Bildung der Trophi erfolgt.

Der Gesamtprozess ist in folgendem Video (1:10 min) in 800-facher Geschwindigkeit zu sehen:


Bild 7: Lecane sp.; Zeitrafferfilm zur Trophi-Bildung
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Außerhalb, aber in der Nähe von Zellen innerhalb des Körpers funktioniert also die Bildung unbelebter Strukturen meiner Meinung nach folgendermaßen:
- Die Zellen bilden nahe ihrer Oberfläche genetisch gesteuert eine Art Matrix, die die Position und Form der unbelebten Strukturen festlegt
- Die Zellen Produzieren das Material der Strukturen, das in Vesikel verpackt wird.
- Die Vesikel werden zur Matrix transportiert und lagern dort das Baumaterial der Strukturen ab.

Wie klappt aber die Strukturbildung weit entfernt von den Zellen außerhalb des Körpers von Tieren? Ein Beispiel für diese Verhältnisse sind die Schuppen und Stacheln von Gastrotrichen.


3. Bildung der Haftröhrchen, Cutikularplatten und Schuppen bei Chaetonotus cordiformis

Süsswasser-Gastrotrichen (genauer Chaetonotoidea) besitzen eine sehr aufwändig skulpturierte Cutikula. Die äußere Hülle wird von einer sehr dünnen, etwa 100nm dicken Epicutikula gebildet. Dieses dünne Häutchen bedeckt das gesamte Tier, einschließlich aller Cilien, Sinneshaare und Stachelschuppen und ist wohl ein einzigartiges Merkmal innerhalb des Tierreichs. Unter der Epicutikula liegen die sehr artspezifischen und meist aufwändig gestaltete Schuppen der Tiere. Diese Schuppen sind oft nur lose mit der nächsten, ca. 1µm dicken Cutikula-Schicht, der Endocuticula verbunden. Diese Endocuticula liegt direkt auf den Hautzellen der Tiere auf.
Zusätzlich besitzen diese Bauchhärlinge einige dickere Cutikula-Platten, die wohl Verdickungen der Endocutikula sind und von denen das Wachstum des Kopfschildes (Kephalion) im Film verfolgt werden kann. An den Zehen sitzen hohle Haftröhrchen, in die die Klebedrüsen ihre Sekrete abgeben und die zum blitzschnellen Festheften der Tiere an das Substrat dienen.


Bild 8: Ch. cordiformis; Cutikulare Strukturen

Bei Ch. cordiformis sind die Haftröhrchen relativ lang und laufen spitz zu. Auffällig ist das Kephalion, das bei dieser Art über den Rücken der Tiere hinausragt und dessen Ende charakteristisch gebogen ist.
Am aufwändigsten sind die herzförmigen - bis längsovalen - Schuppen der Tiere gestaltet, die einen sehr langen Stachel tragen, der im hinteren Drittel der Basisplatten entspringt und recht weit von seinem Ende entfernt eine auffällige Nebenspitze trägt.


Bild 9: Ch. cordiformis; Stachelschuppe mit Nebenspitze

Wie werden diese unbelebten Strukturen so artspezifisch gebildet, obwohl sie sehr weit von den Hautzellen, die ja die genetische Information tragen, entfernt sind? Dazu muss man die Embryonalentwicklung der Tiere verfolgen.


Bild 10: Ch. cordiformis; Bildung der Haftröhrchen

Fokussiert man nach dem Abschuss der Teilungsphase der Zellen auf die Hautoberfläche des Embryos innerhalb des Eis, erkennt man, dass auf den Hautzellen sehr viele Vesikel unterwegs sind, die wohl von den Hautzellen ausgeschieden werden. Sie transportieren das Material, das zur Bildung der Cutikula notwendig ist. Anders als bei den beiden obigen Beispielen werden die cutikularen Strukturen nicht über das gesamte Volumen gleichmäßig gebildet, sondern wachsen nur an der Kontaktfläche zu den Zellen. Hier wird das Material entlang einer genetisch vorgegeben, zeitlich variablen Matrix abgelagert. Deutlich erkennt man, dass z. B. die Haftröhrchen langsam in der Länge wachsen, bis die endgültige Gestalt erreicht ist.


Bild 11: Ch. cordiformis; Wachstum des Kephalions

Besonders deutlich ist dieser Prozess bei dem Wachstum des Kephalions zu sehen. Das charakteristisch gebogene Ende des Kopfschildes wurde bereits zu Anfang des Wachstums in seiner endgültigen Form gebildet und wird im Laufe der Zeit immer weiter über den Rücken des Tieres hinausgeschoben.


Bild 12: Ch. cordiformis; Bildung der Schuppen

Auch die Schuppenbildung verläuft analog. Zuerst werden die langen Stacheln gebildet, deren Struktur durch die zeitlich Modulation der formgebenden Matrix bestimmt wird. Erst am gegen Ende des Prozesses - nach der Bildung der langen Stacheln - werden die Basisplatten der Schuppen sichtbar. Dieser Bildungsprozess erinnert an einen biologischen 3D-Drucker: Schicht für Schicht wird das Material programmgesteuert abgelagert bis das endgültige Werkstück - z. B. die Stachelschuppen - vollständig gebildet sind.

Die Bildung der cutikularen Strukturen bei Chaetonotus cordiformis kann direkt in einem ca. 4 minütigem Zeitrafferfilm in 400 facher Geschwindigkeit verfolgt werden:


Bild 13: Ch. cordiformis;  Zeitrafferfilm zur Cuticula-Bildung
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Die biologisch Musterbildung und speziell die Bildung der unbelebten Strukturen ist - soviel ich weiß - noch nicht endgültig verstanden und ein aktuellen Forschungsthema. Auch wenn wir Amateure hier wenig betragen können, lässt mich - und vielleicht auch Euch - die Beobachtung dieser Vorgängen staunend und fasziniert zurück.

Viele Grüße

Michael




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Literatur:
1 M. L. Lemloh et al., Genesis of amorphous calcium carbonate containing alveolar plates in the ciliate Coleps hirtus (Ciliophora, Prostomatea), J. Struct. Biol., vol. 181, no. 2, pp. 155–161, 2013, doi: 10.1016/j.jsb.2012.12.001.

Gerne per Du

jcs

Hallo Michael,

sehr interessante Dokumentation, danke für's Zeigen!

Zu den Vorgängen, die bei der Bildung extrazellulärer (Hart)gewebe stattfinden, gibt es zahlreiche Untersuchungen. Unter dem Stichwort "Biomineralisation" findet man z.B. viel zur Bildung anorganischer Strukturen (Calciumphosphate und -carbonate, Silikate, ...). Dabei spielt die Zellmembran eine wichtige Rolle. Durch Transport von Ionen durch die Zellmembran und Änderung der lokalen chemischen Umgebung (Überschreitung des Löslichkeitsproduktes, Änderung ph-Wert, ..) kann die Zelle die Bildung von Kristallkeimen und das Kristallwachstum steuern. Ist ein spannendes Thema (bin leider kein Spezialist dafür).

Jürgen

Michael Müller

Hallo Jürgen,

es freut mich, dass mein Beitrag für Dich interessant ist!
Vielen Dank für das Stichwort "Biomineralisation", das mir gefehlt hatte - das ist ja anscheinend zur Zeit ein sehr aktives Forschungsgebiet! Jedenfalls habe ich jetzt eine Menge Literatur gefunden, die mir vielleicht weiterhilft.

Ein schönes Wochenende

Michael
Gerne per Du

Martin Kreutz

Hallo Michael,

mit diesem Beitrag hast Du Dir ja ausgesprochen viel Mühe gegeben! Dieses Thema wurde hier im Forum glaube ich noch nie so tiefschürfend behandelt. Ich bin auch immer wieder erstaunt, wie Stacheln oder Panzer gebildet werden. Bei den Ciliaten war mir der Prozess im Groben bekannt. Ich meine mich erinnern zu können, dass das endoplasmatische Reticulum auch entscheidend an der Biomineralisation beteiligt ist. Wie das aber genau passiert, also wie z.B. die typische Form der Panzerplatten von Coleps unsichtbar vorgeprägt werden, weiß ich leider auch nicht. 

Besonders interessant fand ich die Haftröhrchen/Schuppenbildung bei den Gastrotrichen, die Du im Video zeigst. Habe ich den Prozess richtig verstanden, das diese Hartteile aus Chitin von den Cuticulazellen in einer Weise ausgeschieden werden, wie ein 3D-Drucker ein Bauteil bilden würde? Um einen Stachel zu bilden beginnt also eine punktförmige Ausscheidung (die Stachelspitze), welche sich immer weiter verbreitert (Stachelschaft) um dann schließlich flächig zu werden (Schuppenbasis)? Die Ausscheidung müsste ja mit der Stachelspitze beginnen. Wollte man den Stachel von Chaetonotus mit einen 3D-Drucker bauen, würde dieser ja mit der flächigen Schuppe beginnen und sich hocharbeiten bis zu Spitze. Bei Chaetonotus scheint die Bildung des Stachels genau in anderer Richtung zu erfolgen. Habe ich das richtig verstanden?

Martin

Michael Müller

Hallo Martin,

es hat mich wirklich fasziniert, zu beobachten, wie diese unbelebten Strukturen in bzw. durch die Zellen geschaffen werden! Leider stößt man mit der mikroskopischen Beobachtung rasch an seine Grenzen. Inzwischen habe ich mich etwas eingelesen und festgestellt, das der genaue Mechanismus an der Schnittstelle Zelle/Mineral und deren genetische Basis bei Weitem noch nicht verstanden ist.

Zitat von: Martin Kreutz in Oktober 18, 2021, 09:23:13 VORMITTAG
Habe ich den Prozess richtig verstanden, das diese Hartteile aus Chitin von den Cuticulazellen in einer Weise ausgeschieden werden, wie ein 3D-Drucker ein Bauteil bilden würde? Um einen Stachel zu bilden beginnt also eine punktförmige Ausscheidung (die Stachelspitze), welche sich immer weiter verbreitert (Stachelschaft) um dann schließlich flächig zu werden (Schuppenbasis)?

Die Schuppen bestehen zwar nicht aus Chitin und es sind die Epidermiszellen, die das Material ausscheiden, aber den Vorgang hast Du - glaube ich - sehr treffend beschrieben. Das Baumaterial wird an (oder zumindest in der Nähe) den Zellen nach einem genetisch festgelegten Bauplan abgelagert. Daher können die großen cuticularen Strukturen nur von der Zelle her wachsen. Anders als bei Coleps und Lecane liegen die Schuppen (Haftröhrchen, Kephalion) nicht flächig an den Zellen an, sondern die Stachelspitze ist am Ende einige zehn µm von den Zellen entfernt.  Es ist unvorstellbar, wie die Zellen über diese Entfernung hinweg genetisch die Form der Stacheln - zum Beispiel der Nebenspitze - steuern sollten.
Die Beobachtung bzw. das Video zeigt auch deutlich, dass z.B. das Haftröhrchen nicht über das gesamte Volumen gleichzeitig gebildet wird, sondern von der Schnittfläche zu den Zellen her "wächst". Dabei bleibt die Spitze der Haftröhrchen unverändert und an der Basis der Röhrchen neues Material angelagert. Besonders deutlich ist, dass bei der Bildung des Kephalions das typisch gebogene Ende der Platte unverändert bleibt und im Laufe der Zeit lediglich weiter vom Körper weggeschoben wird. Das Ende der Platte verändert sich nicht und ist bereits zu Anfang vollständig gebildet worden.
Bei den komplex geformten Stachelschuppen ist der Vorgang leider nicht so deutlich zu sehen. Dennoch erkennt man, dass bereits sehr früh die Stacheln zu sehen sind, die sich immer weiter verlängern bevor dann endlich die Basisplatten der Schuppen sichtbar werden. Ein perfekter 3D-Drucker, der die Schuppen von der Spitze her Schicht für Schicht druckt.
Ein interessanter Aspekt des Vorgangs, den ich im Beitrag nicht erwähnt habe, ist, dass ein solcher komplexer Bildungsvorgang eigentlich nur dann vorstellbar scheint, wenn die zarten, im Bau befindlichen Strukturen innerhalb eines geschlossenen Reaktionsgefäß geschützt sind. Nur so können die sicherlich recht empfindlichen chemischen Gleichgewichte, die hierzu nötig sind - trotz der ständigen Bewegung des Embryos - exakt kontrolliert werden. Möglicherweise ist das ein Grund für die Ausbildung der eigenartigen Epicutikula bei den Gastrotrichen, die das Tier außerhalb der Schuppen umgibt und  dadurch kontrollierte Bedingungen für die Biomineralisation ermöglicht.

Viele - und immer noch faszinierte - Grüße

Michael
Gerne per Du