Der Ciliat Mycterothrix tuamotuensis – Teil 1

Begonnen von Bernd, Oktober 29, 2024, 19:28:42 NACHMITTAGS

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Bernd

Liebe Ciliatenfreunde, liebes Forum,

heute möchte ich einen in mehrerer Hinsicht ungewöhnlichen Ciliaten vorstellen, Mycterothrix tuamotuensis (BALBIANI, 1887) LAUTERBORN, 1898.

Ungewöhnlich ist schon der Artname tuamotuensis, der sich auf den Fundort der Exemplare bezieht, an Hand derer die Art beschrieben wurde. Dieser Ciliat wurde zuerst in Moosen von den Tuamotu-Inseln, die nach Frankreich gebracht wurden, beobachtet und 1887 von dem französischen Zoologen Balbiani beschrieben. Die Tuamotu-Inseln sind eine Inselgruppe im Südpazifik, waren seit Ende des 19. Jahrhunderts französische Kolonie und haben später, von 1966 bis 1996, durch zahlreiche Atomwaffentests, zuerst auf Mururoa und Fangataufa, später unterirdisch, Bekanntheit erlangt.

Die zum Sammeln von Material geplante Exkursion zu den Tuamotu-Inseln konnte leider nicht stattfinden. Sie wurde aber durch einen Ausflug zu einem ca. 10 km von meinem Zuhause entfernten Wald ersetzt, in dem ich eine kleine Moosprobe von einem Baum abkratzte, in der ich den Ciliaten  glücklicherweise finden konnte.

Mycterothrix tuamotuensis_01.jpg

Das Moos habe ich einige Tage in destilliertem Wasser eingeweicht und dann mikroskopiert. Dabei ist mir ein Ciliat aufgefallen, der ein durchsichtiges, nur durch anhaftende Teilchen zu erkennendes Schleimgehäuse bewohnte. An der Bestimmung des Ciliaten bin ich gescheitert, aber Martin Kreutz hat ihn sogleich erkannt und benannt: Mycterothrix tuamotuensis.

Mycterothrix tuamotuensis_02.jpg

Wer sich über die scheinbar ungewöhnliche Orientierung des Bildes wundert – Ciliaten sollten ja wie wir Menschen auch abgebildet werden, also Vorderende oben, Hinterende unten, die Bauchseite dem Betrachter zugewandt – hat eine zweite ungewöhnliche Eigenschaft des Ciliaten erkannt. Seine Mundöffnung liegt nämlich im hinteren Viertel des Körpers. Foissner (1993) schreibt dazu über den zur Familie Marynidae gehörenden Ciliaten:
"Family Marynidae POCHE, 1913: Very small to large Colpodida whose body consists of large preoral calix and small postoral uvula. Vestibulum very small to medium sized. Vestibular opening in posterior half at uvula base.
The former problem with the classification of the Marynidae resulted mainly from the misinterpretation of the cell 's orientation, i. e. it was not recognized that the morphological peculiarities result from the adaptation to a sessile or semi-sessile habit. The uvula which protrudes from the case is seemingly the anterior end because it contains the oral opening. But the true morphological and physiological orientation becomes apparent by observing the movement: all species swim with the calix end forward." (Hervorhebungen von mir)

Das heißt, daß das Hinterende des Ciliaten aus der Schleimhülle herausschaut. Alle Fotos sind insofern korrekt orientiert, als daß das Vorderende der Ciliaten oben ist, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint als stünden alle Ciliaten auf dem Kopf.
Zugegebenermaßen habe ich anfangs auch fälschlicherweise angenommen, daß das Vorderende aus der Schleimhülle herausschaut und habe erst durch die Literatur meinen Irrtum erkannt. Bei genauerer Beobachtung des schwimmenden Ciliaten (siehe unten) hätte ich das aber vermeiden können, Der Ciliat dreht sich bei Schwimmen um die Längsachse und schwimmt immer nur in eine Richtung, nämlich vorwärts. Dabei ist die Mundöffnung immer hinten.
Das Vorderende des Ciliat ist mit einer langen, aus mehreren Cilien bestehenden, sog. Haftwimper in der Schleimhülle verankert. Am Hinterende fallen zudem einige lange und starre Cilien auf.

Mycterothrix tuamotuensis_03.jpg

Bei steigendem Deckglasdruck verläßt der Ciliat seine Schleimhülle und schwimmt davon. Geling es dann, den Ciliaten unter dem Deckglas zu fixieren und zu quetschen, erkennt man am Hinterende die Mundöffnung (MO), daneben die kontraktile Vakuole (kV), zentral den runden Makronukleus (Ma) und im Cytoplasma eingeschlossen eine große Anzahl mehr oder weniger runder Gebilde (S). Da diese Gebilde im optischen Schnitt gezeigt sind, handelt es sich in Wirklichkeit um kugelförmige Schuppen.

Mycterothrix tuamotuensis_04.jpg

Interessant ist auch, was man nicht sieht, nämlich die langen und starren Cilien am Hinterende und die Haftcilie(n) am Vorderende.

Bei entsprechender Lage der Fokusebene wird vor den langen und starren Cilien eine Cilienreihe sichtbar (Pfeil; dieser Ciliat sitzt in seinem Schleimgehäuse).

Mycterothrix tuamotuensis_05.jpg

Außerdem ist der Ciliat nicht gleichmäßig bewimpert, sondern hat neben der Mundöffnung ein dichter bewimpertes Feld (Pfeil).

Mycterothrix tuamotuensis_06.jpg

Diese dichter bewimperte Region ist besonders deutlich zu erkennen, wenn der Fokus auf die Zelloberfläche gelegt wird.

Mycterothrix-tuamotuensis_07.jpg

Fortsetzung im nächsten Beitrag, ,,Der Ciliat Mycterothrix tuamotuensis – Teil 2".

Viele Grüße,
Bernd

Michael Plewka

Hallo Bernd,
vielen Dank für diese exzellente Dokumentation.
Beeindruckend auch deine entsprechende Recherche zu dieser bizarren Bio-Form.

Obwohl ich ja auch viele Moosproben untersuche, ist mit dieser Organismus bewusst noch nicht begegnet. In deinem Bild vom Fundort sind aber nicht nur Laubmoose zu sehen, sondern m.E. auch Lebermoose (>>> Frullania (das löst das Foto leider nicht auf)????). Kann das etwas mit dem Ciliaten zu tun haben?

Die Orientierung des 1. Bilds des Ciliaten ist natürlich ein ,,eye-catcher", so dass auf die eigentliche Intention, nämlich der Hinweis auf die andere  Orientierung der Organelle innerhalb der Zelle, deutlich wird. Dabei bleibt jedoch die Aussage Foissners unklar: Jeder Mikroskopiker, der schon mal einmal ein Pantoffel"tierchen" gesehen hat, weiß, dass dieses seine  Schwimmrichtung wechseln kann. Wie dabei das ,,vorwärts-" bzw ,,rückwärts-" Schwimmen definiert werden soll, sei zunächst mal offen, aber  diese triviale Paramecium-Beobachtung scheint nach meinem Verständnis erst einmal im Widerspruch zu der  Aussage:" ,,all species swim with the calix end forward." (sind damit alle Ciliaten gemeint?) zu stehen. Weißt du diesbezüglich mehr?


Beste Grüße
Michael Plewka





Martin Kreutz

# Bernd: Zuerst möchte ich Dir zu diesem hervorragenden Bericht gratulieren und der hervorragenden Fotodokumentation von Mycterothrix tuamotuensis! Das Vieh scheint selten zu sein und es ist schön, dass Du bei der Durchsicht Deiner Proben diesen recht kleinen Ciliaten als etwas besonderes erkannt hast. Der gezeigte Baum mit Moos/Lebermoos dürfte somit der einzige bekannte Fundort in Deutschland sein. Penard und Faure-Friemet fanden ihre Exemplare in Genf und Paris. Kahl im Zillertal und Foissner hat ihn nie gefunden. Ich auch nicht und Michael offensichtlich auch nicht. Wie es Mycterothrix tuamotuensis aus dem Moos am Baum bis zur zur 15.000 km entfernten Insel Tuamotu (oder umgekehrt) geschafft hat, bleibt wahrscheinlich ungeklärt.


 # Michael: Bernd hat mir dankenswerter Weise auch etwas von dem Moos des gezeigten Baumes geschickt, wodurch ich nun auch die Gelegenheit hatte Mycterothrix tuamotuensis mal live zu sehen. An der Moosprobe ist mir nur aufgefallen, dass sie sehr "bröselig" war, dunkel (wahrscheinlich vom Lebermoos) und dass sich nach dem vernässen sehr schnell sehr viele Bakterien gebildet haben. Die ersten Exemplare von Mycterothrix tuamotuensis habe ich nach 2 Tagen gefunden. Ich habe auch schon Lebermoose von den Bäumen in meiner Umgebung gekratzt, aber das Vieh noch nie gefunden. Die Anwesenheit von Mycterothrix tuamotuensis muss durch einen anderen Parameter verursacht werden.

Ich möchte Bernd nicht vorgreifen, aber was die Orientierung von Ciliaten in Abbildungen angeht, so wird eigentlich immer die Mundöffnung nach vorne (zum Betrachter) dargestellt und das Vorderende oben. Ausnahme sind rotationssymmetrische Ciliaten wie Holophrya. Mundöffnung ist klar, aber was ist vorne? Darunter versteht man (meines Wissens) die "bevorzugte Fortbewegungsrichtung". Klar, fast alle Ciliaten können sich vorwärts und rückwärts bewegen (bei einigen peritrichen bin ich mir nicht sicher). Kahl hat Mycterothrix tuamotuensis noch anderes herum dargestellt (Gehäuse unten, Ciliat oben) aber Foissner hat die Fortbewegung von losgelösten Exemplaren berücksichtigt. Und dann erkennt man, dass Mycterothrix tuamotuensis praktisch ausschließlich mit dem gerundeten Ende (die sog. calix) bevorzugt voran schwimmt, nicht mit dem "Zapfen" voran. So habe ich es auch gesehen. D.h. das Vorderende steckt im Gehäuse und das Hinterende schaut heraus. Ein ähnlicher Ciliat mit ähnlicher Form ist z.B. Brachonella contorta. Gehört zwar in eine ganz andere Familie, schwimmt aber auch mit der "Kuppe" voran und die Mundöffnung ist am Hinterende. Er wird also mit der "Kuppe" nach oben dargestellt. Kritiker (wie Du) könnten jetzt behaupten, die Viecher sind gestresst und schwimmen alle mit dem Hinterende voran und wir glauben nur, es wäre das Vorderende. Das kann sein, weil wir unter artifiziellen Bedingungen beobachten (Pipette, Deckglas, Schichtdicke, Beleuchtung), aber wir hätten immer noch eine allgemeine Übereinkunft in der Definition.


Schönen Abend

Martin

Bernd

Hallo Michael,

ich habe den Ciliaten, nachdem er sein Gehäuse verlassen hatte, immer nur in eine Richtung schwimmen sehen. Und zwar immer so, daß die Mundöffnung entgegengesetzt zur Fortbewegungsrichtung positioniert war, also definitionsgemäß hinten. Einen Wechsel der Schwimmrichtung, die ja z.B. bei Paramecium häufig erfolgt, habe ich nicht beobachten können. Wie oben geschrieben habe ich das Vieh zuerst auch mit der Mundöffnung oben orientiert, bin aber nach dem Studium der Foissner-Monographie seiner Definition gefolgt und habe alle Fotos um 180° gedreht.
Foissner hat die Zeichnungen verschiedener Autoren reproduziert, seiner Definition folgend aber die Abbildung von Faure-Fremiet und Kahl um 180° gedreht reproduziert.

Viele Grüße
Bernd

Michael Plewka

Hallo Bernd, hallo Martin,

vielen Dank für eure ausführlichen Ergänzungen und Erläuterungen. Da kann ich wieder was lernen!

@ Martin:  sehr schön, dass du auch noch ein weiters Viech nennst (Brachonella), bei dem eine ähnliche Orientierung vorliegt.
Mir geht es nicht um Zweifel an den Beobachtungen bzw Interpretationen derselben, sondern vielmehr  um die Homologiekriterien, die ja ebenfalls bei den Einzellern Aussagen zur  Phylogenie und damit den verwandtschaftlichen Beziehungen möglich machen. Und da frage ich mich halt, ob bzw. wie die Bewegungsrichtung (Cilienschlag und Metachronie) als vererbbares!!!  Merkmal  einzuordnen ist....
Insofern liefert dieser Thread viele interessante Anregungen!

Beste Grüße
Michael Plewka