Meeresbiologie: "gestohlene" Nesselkapseln

Begonnen von Ole Riemann, Oktober 21, 2018, 21:46:43 NACHMITTAGS

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Ole Riemann

Liebe Kollegen,

ich möchte hier ein meeresbiologisches Thema etwas ausführlicher vorstellen, auf das ich bei den meeresbiologischen Exkursionen des Biozentrums der Universität Würzburg in den letzten Jahren immer wieder gestoßen bin und das ich im vergangenen Sommer an der marinbiologischen Station auf Helgoland etwas näher untersuchen konnte. Es handelt sich um das Phänomen der "Kleptocniden", also der gewissermaßen gestohlenen Nesselkapseln.

Nesselkapseln (Der Fachbegriff lautet Cniden oder Nematocysten, die in Nematocyten gebildet werden) sind vielen Mikroskopikern von der limnischen Hydra wohlbekannt. Nesselkapseln sind die wohl kompliziertesten Sekretionsprodukte der eukaryontischen Zellen und werden ausschließlich von Cnidariern, den Nesseltieren, produziert. Hierzu gehören die landläufig als Quallen bekannten Medusen, die im Lebenszyklus zahlreicher Cnidarier auftreten und die Geschlechtsgeneration darstellen. Ebenso sind die kolonialen Korallenpolypen und andere, unscheinbarere Polypen wie z.B. Hydra, Nesseltiere.

Bei sublitoralen Dredge-Proben aus dem Helgoländer Tief - also Proben, die mittels einer Art Rechen vom Schiff aus vom Meeresgrund in ca. 50 m Tiefe genommen wurden - fanden wir zahlreiche Muschel- und Schneckenschalen, die mit weitläufigen Stöcken von Hydrozoen-Polypen überzogen waren. Diese Hydrozoen-Stöcke wurden von farblich sehr bunt gezeichneten Nacktschnecken besiedelt. Diese Schnecken stellen für marine Hartsubstrate typische Vertreter der Opisthobranchia dar, eine vorrangig marine Gruppe meist litoraler Schnecken, bei denen das Gehäuse weitgehend oder gänzlich reduziert ist.

Das biologisch vielleicht Faszinierendste an diesen marinen Nacktschnecken - von ihrer Farbenvielfalt und Formschönheit ganz abgesehen - ist, dass von ihnen manche Arten in der Lage sind, die aus ihrer Cnidaria-Beute (Hydrozoen-Polypen) stammenden Nesselkapseln nicht nur zu tolerieren ohne Schaden davon zu tragen, sondern von ihnen unmittelbar zu profitieren. Sie schaffen es, die Nesselkapseln der Beute in das eigene Gewebe zu integrieren und in sogenannten Cerata - beutelförmigen Aussackungen der Körperwand, in die Ausläufer der Mitteldarmdrüse hineinziehen -  zu konzentrieren und dort auch außerhalb des Nesseltieres funktionsfähig zu erhalten. Die Nesselkapseln der verdauten Beute dienen nunmehr der Nacktschnecke als potentiell tödliche Waffe und schrecken Räuber ab, die den Schnecken gefährlich werden könnten. Da die Nesselkapseln aus der Beute stammen und nicht von der Schnecke selbst, sie gewissermaßen entwendet wurden, nennt man diese Cniden Kleptocniden.

Aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre war ich auf das Auftreten der Nacktschnecken in unseren Sublitoralproben vorbereitet und hatte mir dieses Jahr vorgenommen zu untersuchen, ob man mit einfachen Methoden die Kleptocniden finden kann. Ich hatte im Laufe der Exkursion für die Teilnehmer einige Folien für unsere Nachbesprechungen zusammen gestellt, von denen ich im Folgenden einige, ergänzt um ein paar weitere Bilder, zeige.

Zuerst nun vier verschiedene Schnecken-Arten, die wir gefunden haben, jeweils unter dem Stereomikroskop aufgenommen. Dass die Bestimmung korrekt ist, kann ich als absoluter Laie auf diesem Gebiet nicht garantieren, sie schien uns aber auf der Basis der vorhandenen Literatur vor Ort plausibel. Die absolute Größe der Schnecken liegt im Bereich von wenigen Millimetern. Bei allen vier Exemplaren sind auch die Cerata mit den farbigen Divertikeln der Mitteldarmdrüse auf der Rückenseite der Schnecken zu erkennen:





Am Beispiel von Coryphella verrucosa kann man erkennen, wie ich bei der folgenden Präparation vorgegangen bin. Mit einer feinen Pinzette habe ich pro Schnecke unter dem Binokular einen Ceras abgezupft (rotes Rechteck) und zum Quetschpräparat verarbeitet (rechte Teilabbildung). Was unter dem Binokular bei Auflicht als weiß leuchtender Bereich an der Spitze der Cerata erscheint, entpuppt sich histologisch als dichte Ansammlung von Kleptocniden (rechts mit rotem Pfeil markiert):



Untersucht man diese Region mit der Ölimmersion, findet man die schönsten Ansammlungen unterschiedlicher Typen von Nesselkapseln:



Wenn man bisher zur Untersuchung der Nesselkapseln nur Hydra-Quetschpräparate gemacht hat, lehrt einen die Unterschung der Kleptocniden bei den marinen Nudibranchia das Staunen!

Leider habe ich Eifer des Gefechts - z.T. mitten im Kursgeschehen und gemeinsam mit einigen Studenten - den Überblick verloren, welches Präparat von welcher Schnecken-Art stammte und kann daher keine sichere Zuordnung Kleptocniden-Schnecke rekonstruieren. Aber für Folgeuntersuchungen ließen sich zahlreiche interessante Versuche/Untersuchungen denken: Kann man aufgrund des Nesselkapsel-Spektrums Rückschlüsse hinsichtlich der erbeuteten Hydrozoen ziehen? Fressen alle Individuen einer Schnecken-Art nur Hydrozoen der gleichen Art? Liegt somit Nahrungsspezialistentum vor? Wie wäre es, junge Schnecken ohne Hydrozoen als natürlicher Beute aufzuziehen - wären sie gänzlich frei von Kleptocniden? Oder wird ein gewisser Bestand über die Eizellen weitergegeben, um schon den Jungtieren einen Schutz zu bieten und fände man auch bei diesen Tiere Kleptocniden?

Im Folgenden nun einige Aufnahmen von Nesselkapseln unterschiedlicher Morphologie und Funktion. Ich vermute, dass auch bei den marinen Hydrozoen die Grundtypen der Nesselkapseln - Durchschlagskapseln, Wickel- und Klebkapseln - auftreten:



Hier ein Ensemble von Nesselkapseln mit einer ausgeprägten Durchschlagskapsel (Penetrante, unterer Bereich des Bildes) mit Stilett:



Eine weitere Penetrante, mit Fokuseinstellung auf den zarten Faden:



Auffallend lang-elliptische Cniden mit vielfach gewundenem Faden und nadelförmigem Stilett:



Weitere Penetranten, unten eine explodierte Kapsel mit ausgestülpter Wandung und (im Unscharfen liegend) Faden:



Abschließend zu diesem Thema - wenn auch nicht bei marinen Nacktschnecken, sondern bei Kleptocniden eines limnischen Plathelminthen - noch ein Verweis auf eine aktuelle Untersuchung von Georg Krohne aus dem Biozentrum der Universität Würzburg. Diese Unterschung zeigt sehr eindrucksvoll und unter Zuhilfenahme unterschiedlicher licht- und elektronenmikroskopischer Techniken, wie die Nesselkapseln der Beute durch das Epithel des Gastralraumes hindurch in das Bindegewebe des Plattwurms und von dort in die Epidermis gelangen.

Krohne G (2018). Organelle survival in a foreign organism: Hydra nematocysts in the flatworm Microstomum lineare. Eur J Cell Biol. 97(4): 289-299

Beste Grüße

Ole

MikroTux

Wow, was es nicht alles gibt. Da fällt einem die Endosymbiontentheorie ein.
Wobei, wurde da nicht auch Schnecken die sich Chloroplasten funktionsfähig einverleibt haben als Muster genannt.

Jedenfalls schön dokumentiert, und die Lektüre lohnt sich, nicht zuletzt wegen den eindrucksvollen Bilder der gestohlenen Nesselkapseln und dem überraschend bizarren  Äusseren der Schneckentierchen selbst.

Michael Müller

Hallo Ole,

vielen Dank für diese hervorragende und informative Dokumentation. Es ist immer wieder faszinierend, welche Wege die Natur geht!

Viele Grüße

Michael

Gerne per Du

Fahrenheit

Lieber Ole,

sehr spannen und mit Freude gelesen! Ich kannt edas Thema aus der einen oder anderen Dokumentation, aber im Bild habe ich es noch nie gesehen.

Eine Frage stellt sich mir jedoch: Bei den Nesseltieren sind die Nesselzellen im Epithel integriert und die Stillette und "Auslöser" er Zellen zeigen nach aussen.
Schön zu sehen im volgenden Link unter Körperbau:

http://www.geologiestudenten.de/invertebraten_cnidaria.html

Bei den Schnecken liegen die Nesselzellen in wildem Durcheinander unter deren Epidermis in den von Dir beschriebenen Ausstülpungen. Wie erfolgt da die Auslösung und durchschlägt das Stillet dann die Epidermis der Schnecke, bevor es ggf. einen Angreifer trifft? Ggf. "feuert" bei z.B. einer Quetschung ein Großteil der Nesselzellen in den Körper der Schnecke ...

Andererseits: Du hast ein Quetschpräparat gemacht und die Nesselzellen sind eigentlich alle intakt - haben also nicht ausgelöst. Werden die vom Wirt vielleicht in irgendeiner Weise inaktiviert und wirken nur bei direkter Zerstörung durch einen Biss? Uups, war doch mehr als eine Frage. :)

Sorry für die vielen Fragen und herzliche Grüße
Jörg
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Arbeitsmikroskop: Leica DMLS
Zum Mitnehmen: Leitz SM
Für draussen: Leitz HM

limno

Hallo Ole!
Faszinierende Dokumentation! Dank dafür von
Heinrich
So blickt man klar, wie selten nur,
Ins innre Walten der Natur.

Michael Plewka

Hallo zusammen

@ Ole: eine sehr spannende und schöne Dokumentation, wobei ich es sehr interessant finde, aus welchen Tiefen Ihr die Proben gedredget habt (das ist ja für  Taucher schon hart an der Grenze).  Insofern steht für mich die Frage im Raum; wie sieht es mit Hydrozoen und ihren Mitbewohnern in geringerer Tiefe aus. Gibt es sowas auf bzw. um Helgoland?

@ Frieder & @ Jörg:

Neben der von Ole angesprochenen Arbeit gibt es natürlich mittlerweile Unmengen an Arbeiten zu diesen Themen. Da ich diesen Thread nicht verwässern möchte, illustriere ich einige Beispiele der Ergebnisse in einem weiteren Beitrag, siehe hier:
https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=32622.0

beste Grüße
Michael Plewka

Ole Riemann

#6
... herzlichen Dank für Eure Rückmeldungen!

@Jörg: Ich muss gestehen, dass ich mit der Biologie der Kleptocniden bei den Schnecken im einzelnen wenig vertraut bin und bisher auch keine Gelegenheit hatte, die sicherlich umfangreiche Literatur hierzu zu lesen (bis auf die Arbeit von Georg Krohne, die aber die Verhältnisse bei einem limnischen Plathelminthen klärt). Mit Sicherheit kann ich nur sagen, dass das grobe Quetschpräparat keinesfalls mehr die native Situation im Gewebe der lebenden Schnecke darstellt. Ich vermute, dass der Auslösemechanismus anders sein muss als in den Epidermiszellen der Hydrozoen, denn nur dort ist ein Cnidocil (der von Dir beschriebene Auslöser) als Bildung der Epidermiszelle vorhanden. Georg Krohne sagte mir mal, dass die Cerata der Nudibranchia eine zentrale Öffnung hätten, durch die die Nesselkapseln abgegeben werden können. Ich vermute daher, dass die Berührung eines Nesselsäckchens dazu führt, dass die Schnecke aktiv einzelne Nesselkapseln ins freie Wasser in Richtung Angreifer abgibt, die dann bei Kontakt mit dem Räuber explodieren.

@Michael: Ja, Hydrozoen-Stöcke mit Nudibranchiern gibt es auch im Tidenbereich des Felswattes unterhalb der roten Bundsandsteinfelsen in der Nähe der Langen Anna. Bei Niedrigwasser kann man dort hervorragend Proben nehmen, man muss allerdings im Rahmen einer Exkursion und in Absprache mit dem AWI dort arbeiten, kann nicht als Privatmensch diesen Bereich einfach so aufsuchen.

Herzliche Grüße

Ole