Embryonalentwicklung beim Bauchhärling A. oculifer (Film)

Begonnen von Michael Müller, November 09, 2018, 10:51:54 VORMITTAG

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

Michael Müller


Hallo in die Runde

Seit einiger Zeit filme ich die Entwicklung von Bauchhärlingen von der Eiablage an bis zum Schlüpfen des Tieres in Zeitraffer (die dafür notwendige Technik habe ich in https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=32623.0 beschrieben). Aus den inzwischen entstandenen Filmen von ca. 5 Arten aus drei verschiedenen Gattungen habe ich exemplarisch den Film ausgewählt, der die Embryonalentwicklung von Aspidiophorus oculifer zeigt. Diesen Film habe ich mit einem Zeitraffer-Faktor von 50 aufgenommen. Da mir dieser Film mit ca. einer Stunde Länge zu lang erschien, um ihn Euch zuzumuten, habe ich den Film im Schnittprogramm nochmals um den Faktor 4 beschleunigt, so dass sich der Zeitraffer-Faktor auf 200 erhöhte und die gesamte Entwicklungszeit des Gastrotrichen von ca. 44h in Echtzeit auf eine Filmlänge auf ca. 13 min. verkürzte.
Parallel zu dem Film möchte ich in diesem Beitrag die gezeigte Entwicklung kommentieren und Euch auf die eine oder andere interessante Einzelheit aufmerksam machen. Zu jedem Kommentar gebe ich deshalb die seit der Eiablage verstrichene Zeit und in Klammern die zugehörige "Filmzeit" an. Wer Lust hat, kann so das Abspielen des Filmes mit den entsprechenden Kommentaren synchronisieren.
Dieser Beitrag beschäftigt sich ausschließlich mit der Embryologie von parthenogenetischen Eier von Süßwasser-Gastrotrichen.


Bild 1: A. oculifer; trächtiges Tier

A. oculifer hatte ich bereits an anderer Stelle kurz vorgestellt (https://www.mikroskopie-forum.de/index.php?topic=32280.0) und möchte deshalb hier nur ein trächtiges Muttertier kurz vor der Eiablage zeigen. Wie bei (Süßwasser-) Gastrotrichen üblich wird das riesige Ei durch Aufreißen der Rückenhaut abgelegt. Die Eiablage und die ersten Minuten der Eientwicklung habe ich in diesem Fall leider verpasst. Deshalb zeige ich den Anfang der Eientwicklung bei einem anderen Ei als im Film (im Folgenden als "Ei I" bezeichnet).


Bild 2: Eientwicklung direkt nach der Eiablage (Ei I)

Die Eier von A. oculifer zeigen die für Gastrotrichen typische, doppelte Eischale. Bei dieser Art sind die beiden Schalen nach der Eiablage weit voneinander getrennt. Der Zwischenraum ist durch eine quellbare Substanz gefüllt, so dass die Eihüllen bei der Ablage auseinander gedrückt werden. Das Ei erhält dabei - ähnlich wie ein Schlauchboot - eine erstaunliche Stabilität. Bei der Ablage besteht das Ei aus einer einzelnen Eizelle mit einem gut sichtbarem Zellkern. Die Eizelle füllt die Eischale vollständig aus.
Unmittelbar nach der Eiablage wird die Kernmembran der Eizelle aufgelöst und der Zellkern wird unsichtbar. Kurz darauf erscheint der Zellkern nahe des vegetativen Pols des Eis (der Ei-Pol, der dem späteren Urmund gegenüber liegt). Durch die Eizelle läuft eine Einschnürung und der Zellkern wandert wieder zurück in das Zentrum des Eis. Am animalen Eipol (der Pol, an dem später der Urmund gebildet wird) erscheint mindestens ein kleiner kompakter Körper, der an die Eizelle anliegt (Polkörper). Nach diesen Vorgängen liegt wieder eine einzelne Eizelle vor, die jetzt die erste somatische Zelle des Embryos darstellt aus der sich im Folgenden das neue Tier entwickelt und die Eischale nicht mehr ganz ausfüllt.
Möglicherweise beobachtet man hier eine sog. Endomitose, bei der der Chromsomensatz einer aus einer Meiose hervorgegangenen Eizelle verdoppelt wird, um die somatische Chromosomenzahl wieder herzustellen. Dazu passt auch das Vorhandensein der Polkörper, die aus asymmetrischen Teilungen während der Meiose entstanden sind.
Das ist der Eizustand (ca, 20 min nach Eiablage), in dem der Zeitrafferfilm ( https://www.youtube.com/watch?v=n1QatGTO2ic ) beginnt:


Bild 3: erste somatische Zelle; Pk: Polkörper; AP: animaler Pol; VP: vegetativer Pol
Zum Starten des Films das Bild bitte anklicken!


20 Min (0:00):
Aus der ersten somatischen Zelle entwickelt sich durch Furchung (Zellteilung unter Beibehaltung des Volumens) der Embryo. Am animalen Pol sind anfänglich die drei Polkörper (ein großer, zwei kleine, meist ist nur der große Polkörper zu erkennen) sichtbar. Die Polkörper geben die Teilungsrichtung der Zellen an und wandern deshalb nach der ersten Teilung in Richtung der zweiten Teilungsachse. Im Weiteren konnten die Polkörper dann nicht mehr beobachtet werden.


Bild 4: Morula nach vier Furchungen

2h 20min (0:36):
Nach vier Furchungen besteht der Embryo aus 16 Blastomeren (aus Furchungen hervorgegangene Zellen) und bildet eine Morula - einen Zellklumpen ohne Hohlraum.


Bild 5: Blastula; Bc: Blaszocoel

02h 47min (0:44):
Die Einzelzellen wandern nach Außen und es bildet sich die sog. Blastula - eine Art Blase mit flüssigkeitsgefülltem Hohlraum. Die Außenschale der Blastula besteht aus einer einzelnen Zellage. Den Hohlraum bezeichnet man als Blaszocoel.


Bild 6: Gastrula; rot: Ektoderm; grün: Entoderm; AP: animaler Pol; VP: vegetativer Pol (Ei I)

Die Gastrulation ist in dem Film leider nicht deutlich zu sehen. Deshalb schiebe ich hier nochmal ein Bild von "Ei I" dazwischen.
Am animalen Pol stülpt sich die Außenschale der Blastula nach innen und bildet durch Invagination eine zweite "Innenschicht" von Zellen (Entoderm in Grün markiert). Die Außenschicht wird nun mit Ektoderm bezeichnet (in Rot markiert). Die dadurch entstehende Öffnung ist der "Urmund" (Blastoporus), der sich bei Gastrotrichen später zum Mund entwickelt. Gastrotrichen sind also (anders als z. B. Säugetiere) Urmundtiere (Protostomier). Aus dem Entoderm wird der Saugmagen (Pharynx) gebildet. Das Ektoderm entwickelt sich zur Außenhaut. Darm und After werden erst später angelegt.


Bild 7: "Kopfbereich" vollständig gebildet

8h 27min (2:26):
Der Kopfbereich ist jetzt vollständig gebildet und füllt das gesamte Ei aus. Die Furchungsaktivität verlegt sich nun an den vegetativen Pol und der Hinterleib wird gebildet.


Bild 8: Entwicklung des Hinterleibs

13h 3min (3:49):
Der Hinterleib wächst aus der Anlage des Kopfes heraus und wird (aus Platzmangel) nach vorne umgebogen (Flexation). Erste Muskelaktivitäten beginnen.


Bild 9: Körper vollständig angelegt; Differenzierungsphase

17h 10min (5:03):
Der Körper ist jetzt vollständig angelegt und die Furchungsphase endet allmählich. Alle Zellen sind vorhanden, differenzieren sich nun zu unterschiedlichen Zelltypen und gruppieren sich zu den Organen des Tieres. (Natürlich gibt es keine strenge Trennung zwischen Furchungs- und Differenzierungsphase)


Bild 10: Beginn der Schuppenbildung

19h 43min (5:49):
Von der Zelldifferenzierung ist mikroskopisch nicht viel zu beobachten. Dafür beginnen sich jetzt die kutikularen Strukturen der Tiers zu bilden. Das bisher nackte Tier wird nun mit ersten zarten Schuppen bedeckt, die von den Hautzellen abgeschieden werden.


Bild 11: Beginn der Bildung der Kleberöhrchen (Kr)

21h 7min (6:14):
Ebenso beginnt die Bildung der Kleberöhrchen an den Zehen des Tieres.


Bild 12: Beginn der Bildung der Darmkörper

26h 17min (7:47):
In den Darmzellen beginnen sich kristalline Körperchen zu bilden, die typisch für juvenile Gastrotrichen sind. Die Funktion dieser Darmkörper ist unbekannt - möglicherweise handelt es sich um Vorratskörper für die erste Lebensphase oder um Stoffwechselrückstände, die nicht ausgeschieden werden können. Bei den meisten Gastrotrichen-Arten werden diese Körper in den ersten Lebenstagen abgebaut.


Bild 13: Kutikular-Platten des Kopfes sind angelegt; Pl: Pleuren; Keph: Kephalion

27h 13min (8:04):
Die großen Kutikular-Platten des Kopfes werden angelegt und sind gut zu erkennen.


Bild 14: Schuppen vollständig angelegt

31h 43min (9:25):
Schließlich scheinen die komplexen Stielschuppen dieser Art vollständig ausgebildet zu sein.


Bild 15: Darmkörper (Dk) und Kleberöhrchen (Kr) voll entwickelt

35h 27min (10:32):
Auch die Darmkörper und die Kleberöhrchen sind jetzt vollständig entwickelt - der Schlupf steht kurz bevor.


Bild 16: Schlupf beginnt

44h 3min (13:07):
Der Schlupf beginnt, wenn das Tier seinen bauchseitigen Mund an die Eischale dreht. Dazu verkrümmt es sich typischerweise "S-förmig".


Bild 17: Das Tier schabt mit dem Kephalion an der inneren Eischale ...

Dieses Exemplar entscheidet sich dann doch noch für eine andere Stelle und beginnt in der Nähe des vegetativen Pols die innere Eischale mit der scharfen Kante des Kopfschildes zu beschaben.


Bild 18: ... und durchbricht sie schließlich

Die innere Eischale wird endlich durchbrochen und das stabilisierende Material zwischen den Eischalen verliert seine Funktion. Die äußere Eischale wird instabil und legt sich in leichte Falten (ähnlich wie bei einem Loch in einem Schlauchboot).


Bild 19: Die äußere Eischale wird gesprengt

Die äußere Eischale ist jetzt flexibel und kann durch Strecken des Tieres leicht gesprengt werden. Das Tier kann das Ei verlassen.


Bild 20: A. oculifer: juveniles Tier kurz nach Schlupf

Das juvenile Tier hat noch nicht die Proportionen des erwachsenen Tiere. Kopf mit Pharynx hatte sich ja zuerst gebildet und konnte sich deshalb bereits in voller Größe entwickeln. Der Hinterleib mit Darm bildete sich später und musste mit dem verbleibenden Platz auskommen. Deshalb wird der Hinterleib erst in den nächsten Tagen die volle Größe erreichen.

Ich möchte mich für die Länge des Beitrages - wieder einmal - entschuldigen, aber ein Auftrennen der Embryonalentwicklung in einzelne Beiträge erschien mir sinnlos. Wer diese Zeilen noch liest hat also meinen ehrlichen Respekt!

Viele Grüße

Michael




Literatur:

Die ersten Untersuchungen zur Embryologie von Süßwasser-Gastrotrichen stammt von Brunson:

    Brunson,R.B. 1949. The life history and ecology of two North America gastrotrichs. Trans. Am. Microsc. Soc. 68: 1-20
   
Brunson hat die Vorgänge direkt nach der Eiablage und die Polkörper noch nicht erkannt. Diese Vorgänge werden erstmals von Sacks:

    Sacks,M. 1955. Observations on the embriology of an aquatic gastrotrich Lepidodermella squammata (Dujardin, 1841). J. Morphol. 96: 473-495.
   
beschrieben, ohne dass eine Interpretation versucht wurde. Diese Arbeit ist die letzte, die sich mit der Embryonalentwicklung bei Süßwasser-Gastrotrichen beschäftigt hat.
Bei

    A. Wanninger (ed.), Evolutionary Developmental Biology of Invertebrates 2: Lophotrochozoa (Spiralia)
    DOI 10.1007/978-3-7091-1871-9_2, © Springer-Verlag Wien 2015


wird die Arbeit von Sacks zusammengefasst und der Embryologie von marinen Gastrotrichen gegenübergestellt. Wegen des vorhandenen Polkörpers wird hier ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass das Ei aus einer (vollständigen) Meiose hervorgegangen ist. Wie der somatische Chromosomensatz wieder hergestellt wird, wird nicht erwähnt.

Hummon hat in

    Hummon,M.R. 1984. Reproduction and sexual development in a freshwater gastrotrich. 1. Oogenesis of parthenogenic eggs (Gastrotricha). Zoomorphologie 104: 33-41.

die Entwicklung der Eier vor der Eiablage untersucht und keine Anzeichen einer Meiose im parthenogenetischen Fall gefunden. Aus diesem Indiz wurde geschlossen, dass die Eier direkt durch Mitose aus den Oocyten hervorgehen und deshalb bereits den somatischen Chromosomensatz besitzen. Eine Fortpflanzung durch Apomixis wurde deshalb vermutet.

Weitere Literatur zu diesem Thema ist mir nicht bekannt - wenn jemand weitere Quellen kennt, wäre ich für diese Literaturangaben sehr dankbar!
Gerne per Du

Klaus Herrmann

Lieber Michael,

ich bin ja kein ausgesprochener Tümpler, aber diese Dokumentation begeistert mich. Deshalb:

ZitatIch möchte mich für die Länge des Beitrages - wieder einmal - entschuldigen, aber ein Auftrennen der Embryonalentwicklung in einzelne Beiträge erschien mir sinnlos. Wer diese Zeilen noch liest hat also meinen ehrlichen Respekt!

musst du dich gar nicht entschuldigen und der Respekt gehört dir für diese sorgfältig dokumentierte Beobachtung!
Mit herzlichen Mikrogrüßen

Klaus


ich ziehe das freundschaftliche "Du" vor! ∞ λ ¼


Vorstellung: hier klicken

Fahrenheit

Lieber Michael,

eine sehr aufwändige, aber auch für eher botanisch Interessierte sehr lehrreiche Arbeit!
Danke für die Mühe und fürs Zeigen!

Herzliche Grüße
Jörg
Hier geht's zur Vorstellung: Klick !
Und hier zur Webseite des MKB: Klick !

Arbeitsmikroskop: Leica DMLS
Zum Mitnehmen: Leitz SM
Für draussen: Leitz HM

RainerTeubner

Hallo Michael,

solche faszinierenden Beiträge können ruhig noch länger sein!

Viele Grüße

Rainer
Mikroskop: Carl Zeiss Standard Universal
Bildbearbeitung: Gimp, Helicon focus und picolay
Kamera: Canon EOS 5D II

Ole Riemann

Hallo Michael,

ich bewundere Deine Beobachtungsgabe und Leidenschaft für die Sache. Vielen Dank für Deinen Bericht!

Beste Grüße

Ole

Martin Kreutz

Hallo Michael,

ich habe mir Deinen Beitrag gerade in aller Ruhe zu Gemüte geführt und kann mich meinen Vorrednern nur anschließen: einwandfreie Arbeit, die lehrreich ist und Spass macht zu lesen! Wo ist das lang? Besonders die Ausbildung des Urmundes fand ich sehr interessant. Vor fast 50 Jahren alles mal gelernt, aber eigentlich noch nie live gesehen. Vielen Dank!

Martin



 

Michael Plewka

Hallo Michael,

dass es Dir gelungen ist, das Ei über einen derart langen Zeitaum zu hältern und dann dabei noch zu videografieren: Respekt und Dankeschön !!!

Beste Grüße
Michael Plewka

Michael Müller

Hallo,

vielen Dank für die netten Rückmeldungen - ich habe mich sehr darüber gefreut. Eigentlich hatte ich befürchtet, dass sich zumindest den Film niemand antun würde. Mein Sohn und persönlicher "YouTube-Coach" meinte dazu: "Wer soll sich das denn anschauen - da ist zu wenig Action drin!"  ;D

@Michael: Die Entwicklungs- und Aufnahmezeit von ca. 44h liegt eher an der unteren Spanne für Gastrotrichen. Bei anderen Arten waren Aufnahmezeiten von ca. 80h nötig - dann ist die Kapazität der Speicherkarte meist zum ungünstigsten Zeitpunkt erschöpft. Möglich werden solch lange Aufnahmezeiten durch die abgedichteten "Mikroaquarien", die einige Wochen stabil bleiben.
Solch lange Filme (ca. 2h Filmzeit bei 50-fach Zeitraffer) wollte ich Euch aber nicht zumuten.

Viele Grüße

Michael
Gerne per Du

limno

Hallo Michael,
auch ich kann mich den Glückwünschen der Anderen nur anschließen! Zwischenzeitlich hatte ich noch einige Mikroskosmoshefte durchgeblättert, ob ich in puncto Bauchhärling etwas Passendes finde- fand aber nichts, weshalb ich erst jetzt zu den Gratulanten stoße.Du dürftest eine der wenigen sein, die Entwicklung eines  bei einem Gastrotricheneis dokumentiert haben.
Beste Mikrogrüße von
Heinrich
So blickt man klar, wie selten nur,
Ins innre Walten der Natur.

Michael Müller

Hallo Heinrich,

vielen Dank für Deine netten Worte, aber ich bin nicht der erste, der die Entwicklung von Bauchhärlingen gefilmt haben (viele waren es aber wohl nicht):

Neubert W (1991): Embryonalentwicklung von Schlauchwürmern. Beispiele: Bauchhärling und Rädertierchen. Mikrokosmos 80 65

Neubert hatte es mit der analogen Videotechnik sicherlich noch schwerer als ich!

Viele Grüße

Michael
Gerne per Du