Wieviel Tubuslängenverlängerung ist tolerabel?

Begonnen von purkinje, Januar 26, 2024, 09:21:15 VORMITTAG

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purkinje

Hallo liebes Forum,

Wer kennt es nicht, beim Adaptieren einer Kamera, Einbau von DIK-Stühlchen, Verwendung von Fremdobjektiven anderer Hersteller, oder Adaptiereung eines Bauteils ohne ein Telansystem oder geeignete Tubuslinse kann es schnell zur Verlängerung der mechanischen bzw. optischen Tubuslänge kommen.

Es stellt sich also die Frage:
Bis zu welcher Abweichung sind Tubuslängenverlängerungen tolerabel?
Falls ihr damit eigene Erfahrungen, oder hierzu Meinungen oder Anregungen habt, diese sind hier gern gesehen!

Im Rahmen meiner kleinen Recherche zum Beitrag über die Leitz Tubuslängen-Frage 160 vs 170 mm stieß ich  mehrfach auf die untenstehende Graphik, leider ohne weitere Erläuterungen.
Durch Bildsuche und Umweg über das US-Forum konnte ich den Ursprung der Grafik identifizieren und die dazugehörige Formel rekonstruieren:
B. M. Spinell, R. P. Loveland:  Optics of the object space in microscopy, Journal of the Royal Microscopical Society Vol 79 (1), S. 59-80, 1960

Hier wurde wohl durch Beobachter ermittelt bis zu welcher n.A. das Bild bei verschiedenen Tubuslängenabweichungen T(ΔTL) noch tolerabel seien.
Dies wurde für Trocken- und Immersionsobjektive getrennt ermittelt und eine Formel errechnet:
T(ΔTL) = k(N.A.)−v
(Konstanten für Trockenobjektive k 0,875 v 4,0 bzw Immersionsobjektive k 16,0 v 6,3)
Für die Trockenobjektive zeigen sich bei höheren Aperturen, wie zu erwarten, schnell Probleme. Auch wenn die Datenpunkte hier eher sparsam sind, finde ich diese ,,Grenzwerte der tolerierbaren Tubuslänge" ganz hilfreich, bei den Immersionsobjektiven zeigt sich mit und ohne Deckglas eine bemerkenswerte Robustheit gegenüber TL-Differenzen:

TolTL.jpg

Tube-Length-nA ratios.jpg


Beste Grüße Stefan





Lupus

Hallo Stefan,

das Problem bei solchen "Grenzwerten" besteht darin, dass diese keine scharfe Grenze besitzen und das Ergebnis daher auch von anderen Parametern abhängt (z.B. visuelle oder fotografische Beobachtung, Objektivqualität). Denn der Effekt entsteht primär durch die sphärische Aberration des Objektives aufgrund der geometrischen Abweichung vom (konstruktiven) aplanatischen Objektpunkt. Die wirkt sich anfangs als Kontrastminderung aus.
Wenn man die theoretischen optischen Ableitungen dazu betrachtet, dann ist der Bildfehler auch von der Objektivvergrößerung abhängig (~ NA2*Vergrößerung2), für die wiederum eine nur grobe Korrelation mit der NA besteht .

Hubert

purkinje

Hallo Hubert,

das ist sicher alles mit Einschränkungen zu sehen, fand es aber zur Abschätzung ab welcher TL-Differenz es zunehmend kritisch werden könnte hilfreich. Ursprünglich ging es mir ja um 2mm Differenz und deren Auswirkung.
Neben deinem wichtigen Argument (Abhängigkeit v.d. Objektivvergrößerung), gibt es sicher auch Unschärfen durch subjektives Beurteilen und es wurden 1959 eher keine Planapos oder Pl Fluotare verwendet, welche auch als Immersionsobjektive empfindlicher sein dürften.
Beste Grüße Stefan

Lupus

Hallo Stefan,

das Thema ist verwandt mit dem gleichartigen Problem des Bildfehlers durch falsche Deckglasdicke Δd. Bekanntlich kann man diesen Fehler durch Änderung der Tubuslänge kompensieren. Also z.B. die sphärische Unterkorrektur des Deckglases durch entsprechende Überkorrektur aus der Tubuslängenänderung. Die bekannte Näherungs-Formel dazu lautet ΔT ≈ 0.4 . β'2 . Δd.

Man kann also auch Erfahrungswerte, welche Deckglasdickenabweichung für eine bestimmte NA akzeptabel ist (für Trockenobjektive), mit der Formel auf die akzeptable Tubuslängenänderung umrechnen.

Hubert

Jürgen Boschert

Hallo Hubert,

ich steh grad auf der Leitung: Was ist bitte β' ?
Beste Grüße !

JB

Lupus

Hallo Jürgen,

ich hatte vergessen es anzugeben: β' ist (meistens) in der Optik die Abkürzung für den Abbildungsmaßstab (Lateralvergrößerung).

Hubert

Jürgen Boschert

Beste Grüße !

JB

Lupus

Hallo,

man kann das Problem auch theoretisch analysieren, indem man die sphärische Aberration berechnet, die in einem aplanatischen System auftritt, wenn der Objektpunkt auf der optischen Achse vom richtigen Objektivabstand um den Betrag Δx verschoben wird. Der Physiker Siegfried Czapski, zeitweise die rechte Hand von Abbe und in der Zeiss-Firmenleitung tätig, hat dazu eine mathematische Ableitung durchgeführt. Ich habe den unübersichtlichen Formalismus gekürzt und anders ausgewertet.

Im Ergebnis entsteht eine longitudinale Aberration Δx' der Bildstrahlen hoher NA auf der optischen Achse im Vergleich zum achsnahen Bildpunkt, die man näherungsweise so formulieren kann (falls ich mich jetzt auf die Schnelle nicht verrechnet habe), n ist der Brechungsindex bei immergiertem Objektiv, ΔT Tubuslängenänderung:
Δx' ≈ dT . {(NA/n)2 / [1-(NA/n)2+(1-(NA/n)2)1/2]}

Der laterale Bildfehler Δy', also bedingt durch den Unschärfekreis des axialen Objektpunktes in der paraxialen Bildebene, ist näherungsweise Δy' ≈ Δx' . NA/β'.
Das Ergebnis liegt nicht allzu weit von der anfangs verlinkten Grafik entfernt wenn man aus Δy und der Annahme z.B. eines 10x-Okulars den visuellen Beobachtungswinkel des Unschärfekreises ausrechnet und mit der Winkelauflösung des Auges vergleicht. Da gibt es natürlich noch Unterschiede durch die jeweilige förderliche Vergrößerung von Objektiv-Okular-Kombinationen ;)

Hubert

purkinje

Hallo Hubert,
die o.g. Studie* ist ja hauptsächlich genau diesem Thema, dem Einfluss der Deckglasdicke wie auch eines abweichenden Brechungsindex von Immersionsölen gewidmet. So wird bzgl des Verhältnisses von  Deckglasdicke und optimaler Tubuslänge eine Abhängigkeit (im mittleren Bereich) von (n.A.)/f2 gezeigt:

TL VS DGD.jpg

*Mittlerweile habe ich die komplette Studie erhalten (Besten Dank an den Übermittler!), falls Interesse besteht, bitte um Nachricht an meine "normale" email: HIER (Nicht via Forumsmail! da kein Anhang mgl.)
Beste Grüße Stefan

Lupus

Hallo Stefan,

ZitatSo wird bzgl des Verhältnisses von  Deckglasdicke und optimaler Tubuslänge eine Abhängigkeit (im mittleren Bereich) von (n.A.)/f2 gezeigt
das wundert mich etwas, denn eigentlich besteht bezüglich der Über- oder Unterkorrektur der sphärischen Aberration durch Objektabstandsänderung im Vergleich zur Wirkung der Deckglasdicke keine wesentlich unterschiedliche  Abhängigkeit von der NA. Die NA wirkt sich natürlich auf die Stärke des sichtbaren Fehlers aus, aber für beide Effekte etwa gleichartig. Die Abhängigkeit 1/f2 entspricht übrigens meiner in Beitrag #3 angegebenen Näherungsformel ΔT ≈ 0.4 . β'2 . Δd, da f ~ 1/β'.

Was war denn in der Studie die grundsätzliche Methodik der Untersuchung? Die visuelle Bewertung eines Testobjektes bezüglich des Schärfeeindruckes?

Hier noch meine Formel besser dargestellt, und der Vergleich mit der beugungsbedingten Objektivauflösung. Was natürlich bei genauer Betrachtung nur eine grobe Abschätzung darstellt da die "Unschäfenkreise" nicht vergleichbar sind (ich habe daher auch nur den halben Durchmesser der in der Formel max. sphärischen Aberration mit dem Durchmesser des ebenfalls "willkürlich" definierten Beugungsscheibchens gleichgesetzt).

Tubuslängenänderung sphärische Aberration Auflösung.jpg

Hubert

purkinje

#10
Hallo Hubert,

nur in aller Kürze
Zitat von: Lupus in Januar 28, 2024, 18:16:04 NACHMITTAGSDie Abhängigkeit 1/f2 entspricht übrigens meiner in Beitrag #3 angegebenen Näherungsformel ΔT ≈ 0.4 . β'2 . Δd, da f ~ 1/β'.

Deshalb hab ich diese weiteren Daten aus dem Paper ausgewählt und da es ja auch für den ambitionierten Hobbyisten von Bedeutung sein könnte, hat mich Deine Meinung hierzu besonders interessiert. Wohingegen allzu schlechte Öle , wenn man keine historischen verwendet nicht mehr so das Problem darstellen sollten. ;)

Zitat von: Lupus in Januar 28, 2024, 18:16:04 NACHMITTAGSWas war denn in der Studie die grundsätzliche Methodik der Untersuchung? Die visuelle Bewertung eines Testobjektes bezüglich des Schärfeeindruckes?

Richtig Sterntest, aber bevor ich den Methodenteil nacherzähle, ich schick sie Dir auch gern (s.o.,bitte anhangsfähige email via PM mitteilen)
Beste Grüße Stefan

Lupus

Hallo Stefan,

solche visuellen Messungen sind nicht ganz unproblematisch weil bei größeren Unterschieden der verwendeten NA und der Objektivvergrößerung in den Messreihen der objektive Bildfehler durch Fehlanpassung der "Augenauflösung" an die Objektivauflösung nicht genau erfassbar ist. Ich hatte das weiter oben mit dem Hinweis auf die "förderlichen Vergrößerung" schon angedeutet.

Hubert

purkinje

Hallo Hubert,

Dank Dir schon einmal für Deine Ableitungen, sehr interessant!
Auch interessant und gar nicht so fein in Hinblick auf die Validität der Formel von Spinell und Loveland: dein beispielhaft gewählter Datenpunkt, das 63/0,85 passt übrigens am besten noch in das Modell k(n.A)-v (s.o.), halbwegs noch 40/0,65, aber dann....oh je 😩

Die uns heute auch interessierenden höheraperturigen Trockenobjektive sind, wie die Immersionsobjektive, nach deiner Ableitung deutlich empfindlicher auf TL-differenzen als im Spinellschen Modell.

Evtl hab ich nachher Zeit und gieß das noch in eine Tabelle und hoffentlich hab ich mich jetzt nicht verrechnet  ;)
Beste Grüße Stefan

purkinje

Nachtrag:
(falls es Rechenfehler geben sollte, bitte hemmungslos melden)
Kommentare, Interpretationen etc sind willkommen  ;)

FormVGL TolTBL.jpg

Beste Grüße Stefan


Lupus

Hallo Stefan,

ich sehe den Unterschied bei den genannten Beispielen 63/0.85 oder 40/0.65 nicht so groß, auch ein Objektiv 100/1.25 passt halbwegs in die erste Grafik (Fig. 2-2). Du musst einerseits berücksichtigen dass "mein" Rechenmodell zunächst theoretisch ist, mit dem von mir genannten Problem der Gleichsetzung von Beugungsscheibchen und Kreis der sphärischen Aberration. Das müsste man erst einmal genauer kalibrieren, einen Faktor 2 könnte das leicht ausmachen.
Andererseits ist auch in der Grafik nichts über die Empfindlichkeit des Effektes ausgesagt, d.h. über den Spielraum der Erkennbarkeit des Bildfehlers. Mir fehlen hier die messtechnischen Fehlerbalken. Wann man sich immer nur von einer Richtung der Tubuslängenänderung an die Testbildauflösung herantastet dürfte ein systematischer Fehler entstehen der mit kleinerem Verhältnis Objektivvergrößerung/NA m.E. zunehmen sollte. Und mir fehlt wie schon erwähnt die dort nicht bestehende deutliche Abhängigkeit von der Objektivvergrößerung. Die ist im Gegensatz dazu in Fig.1 enthalten.

Wenn man in die andere Grafik die Gerade aus der Formel ΔT ≈ 0.4 . β'2 . Δd für z.B. ein 40x Objektiv einträgt (grüne Linie), dann stimmt die Steigung und Lage gut mit dem Objektiv Nr. 5 überein, das wohl auch ein 40x Objektiv sein könnte. Die absolute Lage der Kurven ist mir schleierhaft, denn bei einer Deckglasdicke von 0.17 mm sollten die sich ja in einem Punkt schneiden. Die Objektive 1-3 dürften aufgrund der flachen Kurvenneigung Immersionsobjektive sein, für die gilt die Formel nicht.

Deckglasdickde.jpg

ZitatDie uns heute auch interessierenden höheraperturigen Trockenobjektive sind ... nach deiner Ableitung deutlich empfindlicher auf TL-differenzen
Der Effekt kommt vom Prinzip daher, dass bei gleicher NA, aber geringerem Abbildungsmaßstab der Winkel des gesamten, einen Punkt abbildenden Strahlenbündels im gleichen Verhältnis größer ist, und dadurch der Zerstreuungskreis der sphärischen Aberration auch.

Hubert